Magische Gleichzeitigkeit: Ingeborg Bachmanns "Die große Fracht" im Vergleich mit Rilkes "Herbsttag"


von Rolf-Peter Wille


                            Die große Fracht


       Die große Fracht des Sommers ist verladen,
       das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
       wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
       Die große Fracht des Sommers ist verladen.

       Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
       und auf die Lippen der Galionsfiguren
       tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
       Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.

       Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
       kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
       doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
       wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

       Ingeborg Bachmann, 1953

"Die große Fracht", obschon ein Lieblingsgedicht der Deutschstunde, lässt sich trotzdem nicht leicht vergessen. Nach über vierzig Jahren lächeln die Galionsfiguren noch unvermindert ihr Lemurenlächeln in meiner Fantasie und, neugierig, möchte ich wissen, wie sie sich in’s Englische hineinlächeln. Nun — schlecht! Obwohl das Englische eine Zwillingssprache des Deutschen ist. Figuren sind "figures" und Lemuren "lemurs". Das sieht doch sehr gleich aus, aber so gar nicht ähnlich klingt es. Lemurs sprechen sich "limmers", leider, und so haben wir statt des dunklen u-Lautes ein quäkendes "i". Figures sprechen sich "figgers".

Und wie übersetzt sich "die große Fracht"? Easily: The great freight" Wow, that’s real’ great indeed. Dem "great" fehlt nicht nur der sommerliche o-Laut sondern auch jegliche Größe heute — alles ist "real’ great" heute. Wie soll man es übersetzen? "Vast", "ample", "large", heavy"? Oder soll man sich was trauen und "the lordly freight" wählen? Hier kann man doch zumindest noch ein prächtiges "o" vorweisen. Wie niederdrückend klingt nun "The heavy cargo"?

Doch warum umflattert mich ein seltsames Déjà-vu, wenn ich "Die große Fracht" übersetze? Richtig! Rilke: "Der Sommer war sehr groß" (oh my lord, that summer was great?). Hier ist der Herbsttag von Rainer Maria Rilke:

                               Herbsttag

      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
      und auf den Fluren laß die Winde los.

      Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
      gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
      dränge sie zur Vollendung hin und jage
      die letzte Süße in den schweren Wein.

      Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
      Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
      wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
      und wird in den Alleen hin und her
      unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

      Rainer Maria Rilke, 1902

Unmittelbar empfinde ich "große" Ähnlichkeit zur "großen Fracht". Wie zum Beispiel die sommerlichen o-Laute in Sommer, Sonne und groß den u-Lauten weichen: "-uhren/Fluren" und "-figuren/Lemuren". Der o-u-Drehpunkt ist jeweils in einem einzigen zusammengesetzten Hauptwort enthalten, "Sonnenuhren" hier und "Galionsfiguren" dort. Doch auch die Bilder sind verwandt, wenn man sie vom Land auf’s Wasser überträgt.

Einem poetischen Spielkalb fällt es schwer, die beiden Gedichte nicht miteinander zu vermischen, zum Beispiel so:

                          Sommerfracht

      Herr: es ist Zeit. Die Sommerfracht war groß.
      Befiehl dem Sonnenschiff bereit zu sein,
      Und in dem Hafen laß die Möwe schrein.
      [Die Fracht des Sommers, Herr, sie war sehr groß.]

      Befiehl dem Sonnenschiff bereit zu sein,
      Und gib den Lippen südlicher Figuren
      Vollendeter das Lächeln der Lemuren.
      Befiehl dem Sonnenschiff bereit zu sein.

      Wer jetzt kein Schiff hat, wenn die Möwe schreit,
      Wer jetzt allein ist, wird im Westen sinken,
      Wird wachen, offnen Augs im Licht ertrinken
      Und wird auf Meereswellen hin und her
      Unruhig treiben, wenn die Möwe schreit.

      Raineborg Rilchmann, 2014

So eine vermischte Parodie alla Godowsky (der Chopin Etüden vermischte) ist freilich recht albern, aber sie lässt Verwandtschaften und Unterschiede erkennen. Auffällig ist zunächst an meiner Mischform, dass das Subjekt, nämlich der "Herr", und die Aktionen (Befehle meist) vom Herbsttag getragen sind, während Objekte und Bilder der großen Fracht entstammen, bzw. Zeilenanfang von Rilke, Zeilenende von Bachmann. Umgekehrt klänge es nach "Großvater plätschert in der grünen Badewanne": Wenn hinter dir die Möwe läßt die Winde los, kommt aus dem Westen der Befehl, lange Briefe zu schreiben, etc. Am natürlichsten wirkt die Vermischung der jeweils ersten Zeile. Man könnte diese Anfangszeilen ohne weiteres aneinanderreihen, ohne dass sie an Würde einbüßten:

      Herr. Es ist Zeit. Die große Fracht des Sommers ist verladen.

Eine "Bachmannische" Wiederholung der ersten Zeile am Ende der Strophe jedoch würde die dynamische Herbsttag Form erstarren lasen:

      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
      und auf den Fluren laß die Winde los.
      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Die "große Fracht" mit ihren ghaselartigen Wiederholungen wirkt statisch wie ein Gauguin Bild im Vergleich mit dem Herbsttag. Hier wird keinem Herrn das Befehlen befohlen. Auch der Tempowechsel, charakteristisch für Herbsttag, fehlt hier beinahe. Bereits in der zweiten Zeile moduliert Rilke von o- zu u-Vokalen, Bachmann erst in der zweiten Strophe. Eine "Rilke treue" Vermischung der ersten beiden Strophen müsste eigentlich so klingen:

      Herr: es ist Zeit. Die Sommerfracht war groß.
      Leg deinen Schatten auf Galionsfiguren,
      und auf Lemuren laß das Lächeln los.

      Befiehl dem Sonnenschiff bereit zu sein;
      gib ihm den Glanz der südlicheren Tage,
      dränge es zu dem Hafen hin und jage
      die letzte Fülle in die Fracht hinein.

Diese "flehende" zweite Strophe, die Bitte um südlichere Tage, passt jedoch gar nicht in das Bachmannsche Gedicht. Statt des reifenden Weines und der Südfrüchte haben wir hier die Lemuren — Madagaskar  statt Italien. Zwar mögen Lemures auch römische Schattengeister sein, und so entspräche das Lemurenlächeln der Galionsfiguren noch genauer dem Schatten auf den Sonnenuhren, aber allzu genau soll man die Lemuren nicht erforschen.

Bei Rilke wirkt diese "südliche" zweite Strophe sehr üppig und eine Entfremdung weht uns erst aus den endlosen Alleen der letzten Strophe und den treibenden Blättern an. Jenes unruhige Treiben, hin und her, resultiert klanglich und bildlich aus der ersten Strophe, nämlich aus dem Wind auf den Fluren. Auch bei Bachmann gibt es so eine "zyklische" Verwandtschaft zwischen Ende und Anfang. Allerdings hier ist es das Licht, "in dem du ertrinken wirst", das dem Sonnenschiff entspricht, die Abend- der Mittagssonne.

Während also der Herbsttag vom Wind auf den Fluren über die reifenden Früchte wieder zum unruhigen Treiben der Blätter zurückkehrt, führt uns die Sommerfracht vom sonnigen Hafen über die schattigen Lemuren zurück in’s Licht. Klanglich könnte sich das "i" des "Licht" auf die i-Laute in "Schiff" oder "liegt" beziehen. Da jedoch die Hauptbetonungen der ersten Strophe immer auf den ersten, dritten und fünften Fuß (bzw. auf die zweite, sechste und zehnte Silbe) jeder Zeile fallen:

      Die gróße Fracht des mmers ist verden,
      das nnenschiff im fen liegt beréit,

überwiegen hier zunächst die o- und a-Laute. Erst in der dritten Zeile schreit die Möwe auf "ö", "ü" und "ei". Die Szene der zweiten Strophe ist von den mysteriösen ü- und ä- und besonders von den u-Lauten verdunkelt, während die der dritten dann von e- und besonders von i-Lauten erhellt ist.

      Die große Fracht des Sommers ist verladen,
      das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,

      wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

      und auf die Lippen der Galionsfiguren
      tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.

      kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
      doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,

Jede Strophe malt ein klangliches Bild. Auch in der Zeit erfolgt eine Modulation der Szenen. Wie im Rilkeschen Herbsttag beginnt die erste Strophe in der Vergangenheit: war sehr groß, ist verladen. Die Gegenwart herrscht in der zweiten Strophe (gib ihnen, dränge, tritt auf) und das ominöse "biblische" Futur in der dritten: wird wachen, wird hin - und herwandern, wirst ertrinken.

Rhythmisch wirkt die "große Fracht" zunächst sehr statisch, besonders im Vergleich zum Herbsttag. Zeilensprünge gibt es nicht und die Betonungen kleben auf der zweiten, sechsten und zehnten Silbe. Erst in der zweiten Strophe kommt ein wenig Bewegung auf, wenn die Akzente bei Lippen und Galionsfiguren auf den zweiten und vierten Fuß fallen (vierte und achte Silbe):

      und auf die Lippen der Galionsfiguren [sprich "lions" als eine Silbe hier]

Aber bereits die Lemuren lächeln wieder im gewohnten Takt, nämlich auf "un-", "Lä-", und "-mu-". Am unregelmäßigsten singt die dritte Strophe, besonders in der Synkope auf "kommt" (bei Rilke gibt es solche Synkopen auf "gib" und "drän-" der zweiten Strophe) und den aufeinanderfolgenden Akzenten: óffnen Áugs. Das "lyrisch-ironische" Zusammenschmieren der Silben (Synaloiphe) übrigens ist ein etwas seltsamer Stilbruch hier in diesem offenbarenden Futur (ich wand’le off’nen Aug’s im Walde...; du wirst sein wie eine Blume…)

Während sich bei Rilke die Strophen "dialektisch" entfalten, dem archaischen "Herr" entspringend, sind die Szenen bei Bachmann vorherbestimmt. Die erste Strophe enthält bereits alle drei Eingangszeilen, die auch die Endzeilen jeder Strophe sind (das Gedicht hat eigentlich nur sieben unterschiedliche Zeilen). Statt einer "van Goghischen" Unruhe








             







 


           Vincent van Gogh: Allee mit zwei Figuren, 1885


gibt es hier nun eine magische Statik wie in einem Gauguin Bild oder ein statisches Flimmern wie bei Seurat.



















                   Georges Seurat: Gravelines, 1890


Die drei Bilder, das Sonnenschiff, die prophetischen Figuren und das offenbarende Licht wirken in einer magischen Gleichzeitigkeit, der du nicht entrinnen wirst.
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hier ist meine ausführlichere Besprechung des Herbsttages: Rilkes "Herbsttag" - Original und "Fälschungen"


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